DIE GUTEN GEISTER UNSERER STADT

ÜBER DAS FLANIEREN IN CORONA-ZEITEN (2)

Interview mit Norbert Schaldach, Bielefelder Flaneur

Norbert Schaldach ist Schriftführer der Bielefelder Flaneure, seit 2007 ein „bundesweit einzigartiges Projekt“ (Westfalen-Blatt), bestehend aus „sechs Männern im besten Alter“ (WDR). Sie laufen keiner Mode hinterher, sondern sind „Chronisten der Stadt und des Wandels“ (Westfalen-Blatt), Schwerpunkt: Gastronomie. Ihre streng subjektiven Berichte sind „überaus lesenswert“ (Neue Westfälische).
www.bielefelder-flaneure.de

Wie haben die Flaneure die coronabedingte Durststrecke überstanden?

Na ja, „überstanden“ klingt etwas dramatisch. Immerhin blieben die Lieferdienste auch trotz Corona die guten Samariter der Futternothilfe. Und unsere stationäre Gastronomie hatte – wie auf ein geheimes Zeichen – kollektiv und ruckzuck den Außerhausverkauf eröffnet. Daher waren plötzlich Menschenschlangen vor Grills und Restaurants zu bewundern, was mich fragen ließ: Gibt‘s hier heute alles gratis? Nö, war die Antwort, und ich stellte fest: die Geduldigen huldigen ihrer Stammgastronomie auch in schwierigen Zeiten.

Aber dann allein zu Hause essen? Ist das nicht auf Dauer langweilig?

Manchmal muss halt eine Netflix-Serie in Ruhe allein zu Ende geschaut werden, und dabei passt eine lecker Liefer-Pizza oder ein akkurates Abhol-Gyros immer sehr gut. Aber anderseits ist die selbst organisierte Outdoor-Geselligkeit natürlich stets eine feine Sache. Die frische Luft hält das fiese Virus am besten fern, und die Stiftung Flaneur-Test vergibt fünf Sterne für kleine Herrenrunden. Wie etwa im privaten Wohngarten von Pauline, einer 16-jährigen Katzendame. Auf dem Weg zum Katzendomizil kehrt man kurz bei Dlier Baker von Pizzaboy an der Mühlenstraße ein und holt schmackhafte Pizzakreationen ab. Bei Pauline angekommen wird die Speise dann von ausreichend Flaschenbier sekundiert – und schon ist der Feierabend ein Wohlfühlabend für alle. Auch für Pauline, die sucht sich nämlich sofort einen Schoß zum Sitzen aus.

Wie fühlt es sich an, wieder in aller Öffentlichkeit essen und trinken zu dürfen?

Als sich wieder alles öffnete, habe ich eine kleine Beobachtung gemacht. Vor der Pizzawelt am Klosterplatz sitzt ein Mann am Tischchen und genießt seine Pizza-mit-alles. Ein anderer Mann hat drinnen seine Abholbestellung aufgegeben und wartet nun vor dem Haus. Plötzlich spricht er den Pizzaesser schmunzelnd an: „Ich merke gerade, wie fremd es mir geworden ist, hier jemanden Pizza essen zu sehen.“ Der Esser bestätigt sofort: „Stimmt, auch mir kommt das komisch vor.“ Dann lachen sie gemeinsam darüber und am Ende sind sie sich einig, dass man trotz aller Lockerungen weiterhin aufpassen muss.

Habt Ihr Euer Revier wiedererkannt oder hat sich in den letzten Monaten vieles verändert?

WDR 4 hatte mal den Slogan „Schönes bleibt“. Offenbar gilt der auch für Bielefeld. Jedenfalls widerfahren uns jetzt schöne Gastroerlebnisse in Déjà-vu-Qualität. Zum Beispiel im Café des Bauernhausmuseums, hier hatten wir ein Wiedersehen mit Käsekuchen und Gewittertorte oder im Restaurant der Sparrenburg mit Krüstchen und Sparrenbörger oder im Heeper Wedding mit Bifteki-Teller und Zucchini-Frikadellen – alles mit 1a Wiedererkennungsfaktor. Schön war auch der Besuch im Kleingartenverein Am Steinbrink. Auf Rufweite zum Tierpark Olderdissen blüht hier eines der letzten Gartenlokale seiner Art. Wirt Klaus Sauer bietet als gelernter Koch eine liebe Speisekarte an, die alle Gäste glücklich macht. Aber wir notieren auch Veränderungen. Etwa den Neustart am Bürgerpark. Hier hat die fleißige Tüley Güreli das traditionsreiche Café und Restaurant übernommen – wohlgemerkt: übernommen in einer Zeit, in der viele von Sorgen sprechen. Aber die Frau weiß, was sie tut, sie hat ihr komplettes Berufsleben in der Gastro verbracht, zuletzt als Brauhaus-Chefin.

Welchen Eindruck hast du insgesamt von der aktuellen Stimmung?

Ich würde sagen, verhalten positiv, aber durchaus positiv. Dazu passt etwas Schönes, was ich im Eingang von Dagmar Seljes Puppentheater entdeckt habe. Dort trägt der Kasper ein Schild in der Hand, trotzige Aufschrift: „Wir haben bis jetzt jede Krise überstanden“ (4). Nach 70 Jahren Selbstständigkeit in zweiter Generation weiß Dagmar Selje nur zu gut, was Krisen sind. Und wenn die Politik die finanzielle Rettung der Lufthansa und anderer Dickdinger durchzieht, dann sollte sie nicht vergessen, dass die kleine Gastronomie und die freie Kultur die guten Geister unserer Städte sind.

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